Eingebildet oder tatsächlich krank?

Kommt es mir nur so vor, oder sind Zeitungen und Internet gerade voll von Meldungen über Menschen, die sich ihre Nahrungsmittelunverträglichkeiten lediglich einbilden ohne wirklich krank zu sein?

Bürger auf der Erbse

Los ging’s mit einer Stern-Kolumne vom Meike Winnemuth unter dem Titel „Bürger auf der Erbse“.

Aufhänger ist (obwohl nicht direkt genannt) eine kleine Straßen-Umfrage der US-amerikanischen Late-Night-Show Jimmy Kimmel Live! Der Reporter wollte wissen:

Ernähren Sie sich glutenfrei?

Und, nachdem jeder der 4 (!) Befragten dies bejaht hatte

Was ist Gluten?

Wie nicht anders zu erwarten: Keiner konnte die richtige Antwort geben. Aber alles andere wäre ja auch langweilig gewesen.

In diesem Stil geht es weiter. Egal ob Glutenempfindlichkeit, Laktoseintolleranz, empfindliche Haut oder (das Phänomen kannte ich bis dato auch noch nicht) bioenergetisch toxische Strichcodes auf Packungen – wir leben laut Frau Winnemuth im „Zeitalter der Empfindlichkeit, Unverträglichkeit und Intoleranz“.

Um es kurz zu machen, das Kredo des Beitrags lautet: Einige wenige sind tatsächlich krank. Der Rest bildet sich seine Krankheit nur ein und ist irgendwie auch noch stolz darauf. Und die Industrie verdient prima daran.

Eigentlich ist das ja auch gar nicht soooo falsch. Aber der Artikel ist halt doch recht polemisch. Dass viele Leser sich angegriffen fühlen, bezeugen denn auch die fast 200 überwiegend kritischen Kommentare auf der zugehörigen Facebookseite.

Wenn Lebensmittel krank machen

Dass es auch anders geht, zeigt ein Artikel der Neuen Züricher Zeitung mit dem Titel „Wenn Lebensmittel krank machen“. Nachdem zunächst die Frage beantwortet wurde, was Gluten überhaupt ist, beschreibt der Autor ausführlich und sehr fundiert das Krankheitsbild der Zöliakie. Anschließend widmet er sich dem Thema der Glutenunverträglichkeit bzw. Glutensensitivität. Anders als bei Zöliakie ist hier die Diagnose schwierig.

Leider purzeln im weiteren Verlauf die beiden Krankheitsbilder etwas durcheinander.

Nur am Rande wird der Verdacht geäußert, dass die Fallzahlen – z.B. durch die reißerische Berichterstattung in diversen Internetforen – wohl künstlich aufgebläht sein könnten.

Immer wieder taucht in diesem Zusammenhang der Begriff „Nocebo-Effekt“ auf. Wörtlich aus dem Lateinischen übersetzt heißt nocebo „ich werde schaden“ – analog zu placebo „ich werde gefallen“.

Als selbsterfüllende negative Prophezeiung entfaltet der Nocebo-Effekt seine Wirkung, wenn wir überzeugt sind, dass eine Handlung, ein Medikament oder eben auch ein Nahrungsmittelbestandteil wie das Gluten sich schädlich auf unsere Gesundheit auswirken wird. In der Folge fühlen wir uns dann tatsächlich krank bzw. werden krank.

Jeder Vierte meidet bestimmte Lebensmittel

Den letzten Bericht in der aktuellen Reihe fand ich auf Spiegel online: „Gluten, Laktose, Histamin – fast jeder Vierte meidet bestimmte Lebensmittel“. Hier werden die Behauptungen immerhin mit konkreten Zahlen aus einer Umfrage des Marktforschungsinstituts „Ears and Eyes“ unterfüttert. Konkret gaben 2.450 Menschen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren Auskunft zum Thema Nahrungsmittelunverträglichkeiten und -allergien.

Die konkreten Ergebnisse:

  • 16 % der Befragten schränken ihren Konsum von Milch- und Milchprodukten wegen der enthaltenen Laktose ein – laut Experten sind 15 % der Erwachsenen laktoseintollerant
  • 11 % der Befragten vermeiden histaminreiche Lebensmittel – laut Experten findet sich eine Histaminunverträglichkeit lediglich bei 1 % der Bevölkerung
  • 10 % der Befragten verzichten auf fruchtzuckerreiche Lebensmittel – laut Experten verstoffwechseln 30 % Frucktose unzureichend aber nur 5 % verspüren tatsächlich ernsthafte Symptome
  • 9 % der Befragten meiden Gluten vollständig oder zumindest teilweise – laut Experten leidet ca. 1 % der Bevölkerung an Zöliakie, weitere 5 – 7 % sind von einer Glutensensitivität betroffen

Für mich erschreckend und schwer nachvollziehbar: Lediglich 21 % gaben an, dass ein Arzt die Unverträglichkeit oder Allergie diagnostiziert hat. Weitere 7 % erhielten den Befund von Ihrem Heilpraktiker. Vorausgesetzt, die Zahlen sind richtig, würde das bedeuten: Gut 2/3 aller Betroffenen „behandeln“ sich mehr oder weniger sinnvoll auf Verdacht selbst.

Und ?!?

Bleibt zuletzt die Frage: Ja, und? Was soll uns das alles jetzt sagen? Irgendwie bin ich unzufrieden mit meinem eigenen Blogbeitrag. Und ein wenig hilflos. Dass ein Zöliakiepatient sich strikt glutenfrei ernähren muss ist klar. Dass es weitere Lebensmittelunverträglichkeiten gibt … auch klar.

Aber was ist mit „den anderen“? Den Menschen, die aus wissenschaftlicher Sicht gar nicht betroffen sind? Bei denen der Verzicht auf bestimmte Lebensmittel vielleicht sogar mehr schadet als nützt?

Ich glaube, viele Menschen sind auf der Suche nach einer gesünderen Lebensweise. Und was heute wissenschaftlich erwiesen scheint, stellt sich oft schon morgen als falsch heraus. Ich habe keine Ahnung, was richtig ist und was falsch. Ob beispielsweise ein Verzicht auf Gluten für mehr als das berühmte 1/2 Prozent der Bevölkerung gesundheitliche Vorteile bringen könnte. Oder ob es sich nur um eine weitere blödsinnige, im besten Fall nur kostspielige Modediät handelt.

Ich kann für mich nur sagen: Ich bleibe neugierig.

Ergänzungen

30.06.2014: Die Badische Zeitung schreibt Glutenfrei ist schwer in Mode – keine wissenschaftliche Belege. Ein ausführlicher, sachlicher Artikel, insbesondere zum Thema Glutensensitivität. Besonders interessant: Es werden auch mögliche andere Ursachen für die Beschwerden genannt, nämlich sogennannte Fodmaps oder Alpha-Amylase/Trypsin-Inhibitoren, kurz ATIs. Was das genau ist, werde ich in einem gesonderten Artikel beschreiben.

Anmerkung

In diesem Zusammenhang könnte Sie auch der folgende Artikel interessieren: Glutenfreie Lebensmittel als Trend-Nahrungsmittel?

 

Ein Gedanke zu „Eingebildet oder tatsächlich krank?

  1. Interessanter Artikel….Man hört eine gesunde Skepsis zwischen deinen Zeilen.

    Vergangenen Winter saß ich beim Arzt im Wartezimmer als im Radio durchgesagt wurde: „Wissenschaftler der XYUniversität haben herausgefunden, dass der Verzehr von Zitronen bei Erkältung nicht die Gesundheit fördert, sondern ganz im Gegenteil durch zu viel VitaminC sogar der Gesundheit schaden kann“

    Da musste schon ich schmunzeln….. Mein ganzes Leben trinke ich jetzt schon heiße Zitrone bei Erkältung.

    Ich denke die sich ständig ändernden Meinung aus dem Medizin/Gesundheitsbereich sind Grund für viele, den Beschwerden selbst auf den Grund zu gehen.

    Ich kann nur sagen: Auch ich bleibe neugirig 😉
    VG!

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